Der Leser

Ein Mann verdiente gut, besaß wohl möglich viel, aber wußte nichts rechtes über das Leben zu sagen. Er war bodenständig, reiste gerne, genoß die Gesellschaft und das Leben, war im Hier und Jetzt verhaftet. Es mußte doch etwas mit der Kultur auf sich haben, die bisher nur Staub für ihn war! Nun wollte er seine Nase in Bücher stecken und nahm einige namenhafte Dichter in Betracht. Er wußte nicht welche ihrer Werke er studieren sollte, wie dies auch anderen Lesern erging. Diese Dichter hatten ihre schier nicht enden wollende Kreativität unter Beweis gestellt, hatten Kultur aufgegriffen und vermehrt, genossen hohes Ansehen bei wichtigen Leuten, die den Dichtern ihre Gunst aussprachen, wenn diese viel geschrieben hatten. War das Schreiben ein Spiel um Reputation oder sollten die Gedankendarbietungen Leser erbauen? Der Leser jedenfalls stand vor unüberwindbar scheinenden Problemen, fühlte sich eingeschüchtert und erschlagen. Aber der Romanist, der sein Nachbar war, ein Mann mit großer Feinheit, der sich mit zeitgenössischen Dichtern und Klassikern gut auskannte, las ständig und sehr viel. Dieser Kenner wusste, dass die Dichter nicht in ihren gesamten Werken gleichermaßen Originelles schufen.

(11.2021)