Pariser Erinnerungen sind für mich immer zugleich Erinnerungen an Erich Wollenberg – mein Mentor in Politik, Geschichte und Sozialismus.
„Was glauben Sie , was ich bin, Reiseleiter?“ sagte zu mir ein Mann der für mich ganz so aussah, wie ich mir einen Pariser Bürger vorstellte: mittelgroß, Baskenmütze, gelbliche Haut, hageres Gesicht – ganz intellektuell und vergeistigt, mit ein bisschen Sarkasmus und eine Spur Ironie – für mich, 20 jährig und zum ersten Mal in Frankreich, ein Bilderbuchfranzose.
Es waren die frühen 60er Jahre – OAS und Umstellung der Währung – für mich alles sehr verwirrend und neu, aber auch aufregend und abenteuerlich.
Rue Gay Lussac, Hotel Gay Lussac, 6.Stock, französisches Fenster mit Aussicht auf den Jardin du Luxembourg im Hintergrund, unter mir ein kleines Cafe mit Tabac und einigen Tischen auf dem Gehweg, einladend zum Frühstück oder für ein Cafe noir so nebenbei, in gleicher Höhe die Dächer von Paris, ein Gemälde für sich: alleine war ich, viel Zeit zum Nachdenken hatte ich. Ich fühlte mich ein wenig als Flüchtling, ein bisschen als Tourist, ein Suchender zu sich selbst – inspiriert durch die Schriften von Satre und Camus, neugierig gemacht durch fortschrittliche Zeitströme der bildenden Kunst und angezogen durch die Chansons der Piaf und der Greco-, in Paris, dieser gewaltigen Metropole mit ihren Boulevards, Terrassen und mit ihrem pulsierenden Leben, was nie zum Stillstand, zur Ruhe kommen will. Hier wollte ich meine Ferien verbringen, hier meine Kenntnisse in der französischen Sprache auffrischen, ja verbessern.
So schlenderte ich in Begleitung eines älteren Menschen den BouMich herunter zur Seine, stolz darauf mein schlechtes Französisch anzuwenden, aber auch stolz darauf, einen so markanten Menschen gleich zu treffen, der eine Mischung von Picasso, Ghandi und Yul Bruner im Aussehen und Statur war, kurz gesagt eine Erscheinung, die auffiel.
Vater und Sohn und der Vater spielt Reisebegleiter, dieses tat der ältere Herr für mich – zeiht und erklärte und ich hatte Mühe, alles zu verstehen, nickte ab und an und wagte auch mal eine Frage. Am Brunnen wurde die Stadtbegehung unterbrochen und wir suchten uns ein Plätzchen zum Ausruhen auf eine Cafe-Terrasse, wo er mir spöttisch, vorwurfsvoll die Frage, ob ich glaube, dass er Reiseleiter wäre, stellte. Ich grinste und meinte, wenn er es nicht sei, hätte er es jedoch gut gemacht.
Der ältere Herr entpuppte sich als Erich Wollenberg, Deutscher und Korrespondent der „Welt“ in Paris, mir gänzlich unbekannt. Mir sagte der Name nichts. Viele Jahre später erfuhr ich, was Wollenberg für ein bewegtes Leben gehabt hatte, nicht von ihm, sondern in Wien während meines Studiums von einem Jesuiten, der während des spanischen Bürgerkriegs mit Wollenberg sich auseinander setzen musste, auch zum Teil holte ich mir seine Biographie aus seinen Schriften, die er während des Kalten Kriegs für das Gesamtdeutsche Ministerium schrieb. Erich Wollenberg selbst hat über seine Vergangenheit mir gegenüber stets geschwiegen und nie geprahlt, welche Berühmtheit sich hinter seinen Namen verbirgt.
Wir saßen im Cafe und plauderten und für mich war es jetzt herrlich, ich konnte in der Muttersprache reden – vollständige Sätze, statt der Ah´s und Oh´s, formulieren. Ich war mit dem Tag zufrieden, ob Wollenberg es auch war, ist die Frage, wir verabredeten uns für den nächsten Tag und ich verschwand in die Pariser Nacht, Montparnasse, wo neue Abenteuer mich erwarten sollten.
Nachts in Paris – Rue St. Jaque, Val de Grace, rechts durch eine Nebenstraße zum BouMich – eine Gegend mit vielen Verwaltungsgebäuden, wenig Fußgängern und mit wenig Straßenbeleuchtung, Paris ist nicht besonders gefährlich zu jener Zeit, was die allgemeine Kriminalität ausmacht, nicht anders als in anderen Städten, jedoch politisch zu jener Zeit hoch brisant, überall Anschläge der OAS, überall gegenwärtig die Staatsmacht, des Nachts außerhalb der großen Boulvards anzuhalten, sollte man lassen. Aber als Fußgänger benutzt man Abkürzungen und denkt in dem Augenblick nicht an Gefahr. So schlenderte ich langsam die spärlich beleuchtete Rue St. Jaque entlang und freute mich schon auf das Cafe Select, wo gewiss wieder Hochbetrieb herrschte, als eine Maschinengewehrsalve über die ruhig daliegende Straße fegte und Geräusche von laufenden Menschen zu hören war; dann herrschte wieder Ruhe. Ich schlich mich an den Häuserwänden entlang, so schnell wie es ging, denn außer dem Mündungsfeuer hatte ich nichts gesehen und außer dem Geräusch der Gewehrsalve hatte ich nichts gehört, außerdem war ich Ausländer, in Richtung Boul. Monteparnasse und verbrachte die halbe Nacht im Select. Am nächsten Morgen las ich in der Zeitung, dass an der Val de Grace 3 Menschen erschossen aufgefunden wurden. Als ich dann an den Ort der Nacht zurück ging, sah ich an den Hauswänden OAS- und Anti-OAS-Parolen mit Hakenkreuzen. Als ich mich mit Wollenberg am Spätnachmittag traf und ich ihm mein Erlebnis berichtete, unterwies er mich in den Konflikt ein, wobei seine Erlebnisse und seine Erfahrungen aus Nordafrika während des II. Weltkriegs in die Analyse der französischen Kolonialpolitik mit einflossen.
Für meine politische Einstellung war Erich Wollenberg mein Mentor, durch ihn bin ich zu einem Sozialismus gekommen, der den von Rühle, den russischen Anarchisten näher stand, als Marx, Engels, Lenin, Stalin; durch seine Begegnung machte ich nicht den Fehler der 68er, die zum Teil unverdaut, die Schriften von Lenin uns Stalin aus der DDR für bare Münze nahmen und den Ostblock als gelobtes Land priesen, während der Westen dekadent und klassenfeindlich sei.
Wollenber zeigte mir die Widersprüche und bewies mir seine These vom braunen und roten Faschismus. Er zeigte sich mir geduldig, verschwieg mir nicht seine Selbstzweifel und Fehler, die er im Laufe seines Lebens hatte und machte, aber immer weiter malte er die Wirklichkeit des realexistierenden Sozialismus in der UdSSR und in der DDR, stellte dar, dass man Marx´ Kapital nicht ohne weiteres auf den Sozialismus anwenden noch ableiten könnte, vom 3.Band ganz zu schweigen, da Engels es herausbrachte, auch sei Marx eine gespaltene Person gewesen.
Er legte bei mir die Grundlage für ein Interesse am Sozialismus, aber er versuchte nicht eine Meinung bei mir aufzupflanzen, denn immer wieder betonte er, was zu lesen sei, beide Seiten müssen umfassend gelesen, nur so sei es möglich, ein fundiertes Wissen über ein Thema zu erhalten und eine eigene Meinung zu haben.
Oft brachte er mich in Verlegenheit, in Wut und zu Ausfällen, jedesmal nahm er dann diese Situation zum Anlass, mir klarzumachen, warum ich so reagiere: weil nichts fundiert sei, nichts gefestigt, weil ich merken würde, wieviel Defizite mein Geist aufweisen würde. Ja, Scham ließ mich ausflippen – ich bin ungebildet, unbelesen, dumm; ja, das war die Wirklichkeit; ich musste mich ändern, das nahm ich mir vor.
Nun stehe ich am Gare du Nord und warte auf meinen Zug, Paris ade sagend, aber nicht auf immer; ich weiss, dass ich mich in diese Stadt verliebt habe und sich Liebende sieht man dich wieder, oder?
Auf der Rückfahrt las ich das Buch, „Der Apparat – Stalins Fünfte Kolonne“, von Erich Wollenberg, was er mir zum Abschied in die Hand drückte und war erstaunt über Erich Wollenbergs Werdegang, der meinen Vater und Großvater kannte.