Paris 1962, Hochsommer, die Luft heiß und feucht, die politische Lage angespannt, OAS, Bürgerkriegsstimmung. Der Tourist merkt von dem nicht viel und Touristen sind viele dort, jedoch gemischt mit den Pariserinnen und Parisern, denn man schreibt erst das Jahr 1962.
Die Cafes und die Lokale sind alle geöffnet, kein Besitzer würde auf die Idee kommen – wie heute üblich – sein Lokal in der Urlaubszeit zu schließen. Die Boulevards von starken Autoverkehr geprägt, aber es hält sich in Grenzen.
Paris beginnt für mich am Bahnhof, am Gare du Nord. Hat man erst den Zug einmal verlassen, dann steht man dort wie bestellt und nicht abgeholt. Man wartet eine gewisse Zeit, um seine Gedanken zu sammeln, liebend-gerne würde man wieder in den erst besten Zug in Richtung Heimat einsteigen: man fühlt sich plötzlich so einsam, so allein, so verlassen – all das, was man in Richtung Paris ignoriert hat, man war Erwachsen – nun ist man wieder Kind und möchte so gerne in die Arme der Eltern, mehr noch in die Arme der Mutter flüchten. Ja, Kind war man allemal im Jahre 1962, noch nicht volljährig und noch die Schulbank drückend.
Jetzt steht man hier auf dem Bahnsteig an einem Pariser Bahnhof, in Paris, dem Ort, von dem man bis zu den Ferien geträumt hat, geschwärmt hat, sich nach der Stadt gesehnt hat: Stadt der Liebe, Stadt der Revolution und Stadt der Freiheit als auch Stadt der Emigration.
Paris sollte für mich der Sprache dienen, Besuch der Sorbonne und zusätzlich der Alliance Francaise, was davon übrig blieb von diesem Vorsatz – schade um das vertane Geld, ich hätte es so gerne für andere Zwecke ausgegeben, aber das Schulgeld wurde im voraus bezahlt und zwar von den Eltern, als ob sie es geahnt hätten.
Eine Bleibe für 6 Wochen fand ich im 5. Bezirk in der Rue Gay Lussac im Hotel de Gay Lussac, einem alten Heruntergewirtschafteten Hotel, das gerade noch für Schüler und Studenten zur Übernachtung ausreichte.
Mein Zimmer lag im 6. Stock, gleich unter dem Dach und mein französisches Fenster ging auf die Rue Gay Lussac, was für mich erfreulich war, denn so konnte ich die Straße überblicken bis zum Jardin Du Luxembourg, aber auch über die Dächer von Paris blicken.
Das Zimmer, was für 6 Wochen mein Heim bleiben sollte, war spärlich möbliert und die Tapete schien die alte zu sein, die beim Einzug oder Einweihung des Hotels geklebt wurde, aber mein Zimmer und das war ein Vorzug, hatte fließendes, warmes und kaltes Wasser. Die Wasserhähne waren zwar altmodisch, man musste sie runter drücken, so dass man Schwierigkeiten hatte, sich bei fließendem Wasser zu waschen, jedoch irgendwie hatte man es geschafft. Die Toilette war draußen im Flur und zwar, dies war für mich etwas Neues, in die Wand an der Treppe eingebaut, aber sie war modern, nicht wie in vielen Cafes und Restaurants in Paris als Stehklosett.
Hier oben in meinem Zimmer stand die Hitze des Sommers, am Tage und in der Nacht und oft, wenn ich nicht einschlafen konnte, stellte ich mir vor, was sich hier im Laufe der Zeit so alles abgespielt haben musste.
Bilder von deutschen Flüchtlingen zur Zeit der Naziherrschaft, Familien in einem Zimmer lebend, nicht wissend wie es morgen weitergehen würde, auf der Suche nach Arbeit, Tag für Tag ein wenig enttäuschter und resignierter, verhärmter und einsamer, verzweifelter und glückloser – bald seiner tauschbaren Dinge entblößt und auf Almosen angewiesen, um seine Familie am Leben zu erhalten: Anna Seghers „Transit“ kam mir hier sehr oft des Nachts zu Besuch.
Baden und duschen war hier im Hotel machbar aber teuer, die Franzosen halten nicht viel von körperlicher Sauberkeit, kein Vorurteil, sondern Tatsache, ob im Jahre 1962 oder heute, man findet in diesem Bereich kaum Fortschritte: gut geduftet haben aber die Pariser immer, körperlicher Geruch wie in Deutschland ist mir selten vorgekommen. Ich habe die 6 Wochen ausgehalten, indem ich meinen Körper morgens ganz wusch und nachmittags auf das Schwimmboot, das an der Seine lag, ging, es war zwar auch teuer, jedoch hier traf man Menschen, interessante und hübsche un da man das Eintrittsgeld zahlen konnte, war man für diese Leute akzeptiert und wurde in den Kreis integriert. Hier, wo die Schicki-Micki, so würde man die dortige Gesellschaft heute bezeichnen, konnte man ausgiebig duschen, baden, schwimmen und sich sonnen, der Platzwar zwar eingeengt, so sollte es ja auch sein, denn man wollte gesehen werden und man wollte selber sehen, plaudern, rauchen, und Dates machen.
Frühstück war im Preis nicht eingeschlossen, unüblich für Paris, aber nicht für eine Schülerbude, die fast sturmfrei war, die Concierge habe ich selten gesehen, dies holte ich in einem kleinen Cafe genau gegenüber meines Hotels nach, preiswert und hatte den Vorteil, dass hier ein Tabac angeschlossen war, wo ich meine Zigaretten und Briefmarken kaufen konnte. Außerdem gab es einige Tische und Stühle im Freien: nicht allzu gemütlich, aber hier konnte ich ungestört Briefe erledigen und meine Schulaufgaben machen.
Meine Bleibe hatte keinen Fahrstuhl. Täglich mehrmals stieg ich die 6 Stockwerke herauf und wieder hinunter – meine sportliche tägliche Leistung. Oben angekommen musste ich erst einmal verschnaufen und Feuchtigkeit tanken: Cider und Rotwein – lauwarm – waren stets vorhanden.
Das Hotel war gewiss nicht schön, aber es lag günstig. Meine Kosten reduzierten sich durch diese Zentralität, denn ich konnte alles zu Fuß erreichen, die wenigen Touren nach Außerhalb, wurden von mir bewältigt, indem ich Personen, die ein Auto besaßen,zu den Besuchen mitnahm.
Von hier Am Schnittpunkt von der Rue Gay Lussac und Rue St. Jacues sowie der Rue Gay Lussac und dem Boulevard St. Michael begannen meine Ausflüge durch Paris. Von hieraus konnte ich bequem meinen eigenen Bezirk – dem 5. – als auch dem 6. sowie den 3. und 2. erreichen.
Der V. Bezirk
Mein Quartier war ganz den Schülern, Studenten und dem Kleinbürgertum gewidmet. Hier lagen die berühmten Pariser Eliteschulen, hier waren die vielen Institute der Universität mit der Sorbonne und hier gab es eine Fülle von Handwerkbetrieben als auch Tante-Emma Läden mit differenziertem Angebot. Außerdem fand man in diesem Bezirk eine Reihe von Läden mit alten Büchern, Kitsch, Kunst und Trödel – eine Mischung, die mir bis dahin unbekannt war und mich doppelt ungemein reizte. Jedes Mal versetzte mich so ein Laden in einen Zustand der Aufregung, der inneren Erregung und ich konnte nie widerstehen, hineinzugehen, um stundenlang zu stöbern, Massen von Zeitschriften und Zeitungen umzuschichten, mit den alten Inhabern zu sprechen und zu feilschen, wenn ich glaubte, dieses oder jenes haben zu wollen. Dieser Bezirk lag fernab vom Touristenstrom, selten verirrten sie sich in diese Gegend. Ein Vorteil für die Anwohner, denn es war hier noch preiswert und der neue Franc war noch was wert. Die Grenze bildete der BoulMiche und der Boulevard St. Germaint: hier war die Domaine der Touristen.
Der VI. Bezirk
Der 6. Bezirk ist eigentlich der klerikale Teil von Paris sein Palais hat, dort wo die gewaltige St. Sulpice steht. In den Nebenstraßen findet man Geschäfte, die sakrale Dinge anbieten. Jedoch ist dieser Bezirk viel differenzierter:
Am Fuße der Kirche St. Germain des Pres liegt das Zentrum der Intellektuellen mit den Cafes – de Flore und Deux Magots – gleichzeitig Treffpunkte für Individuen mit außergewöhnlichen Geschmack, daher auch ein starker Treffpunkt von Touristen, die sich hier als soziale Voyeuristen betätigen. Ein Platz auf den Terrassen dieser Cafes ist so begehrt, dass die Inhaber
ihre Preise um das 3-4 fache angehoben haben und die Zeit des Verweilens indirekt begrenzt haben, maximal 30 Minuten für nicht Stammgäste.
Die Fressmeile der Touristen ist der BouleMiche mit seinen Selbstbedienungsläden, die für jeden Geldbeutel etwas typisch „französisches“ anbieten, aber nicht für die Touristen ist der BoulMiche dar, sondern auch für die vielen Bewohner dieses Bezirkes, denn das macht Paris ja gerade so interessant, überall wohnen und leben Personen, eine eigentliche City, wie in deutschen Staaten, hat sich hier nicht herausgebildet, Deshalb findet man hier eine Menge kleinerer und größerer Bistros – eine Mischung von Cafe und Bar, auch ein wenig Restaurant: hier trifft man sich, hier überfliegt man die Zeitung, hier stärkt sich der Pariser in der Mittagspause und nach getaner Arbeit. Hier brodelt es den ganzen Tag und die Touristen fragen sich, ob die Pariser denn nicht arbeiten
und die Pariser fragen sich, ob die Pariser fragen sich, wie die Touristen sich so abhetzen, um alle wichtigen Punkte abhaken zu können.
Geht man durch den Jardin du Luxembourg kommt man auf die Rue du Rennes und links sich haltend nach Monteparnasse. Hier war das Zentrum der Kunst und der Kreativität nach dem I.Weltkrieg bis in die 40er Jahre – auch 1962 spürt man noch einen Hauch davon. Ob alles Gold ist, was glänzt, spielt keine Rolle – interessant sind schon die Cafes um das Select mit ihrem Publikum. Abends kommen die Touristenbusse vorbei und die Meute schwärmt aus, um alle freien Tische zu belegen, bestellen, trinken, tratschen und verschwinden wieder, das ganze dauert nur 20 Minuten, die alteingesessenen Gäste haben kaum Notiz von der Invasion genommen. Für mich selbst jedoch wurde die Stimmung beeinträchtigt, die Ausstrahlung des Ortes gestört, der Traum brach ab, ich packte meine sieben Sachen zusammen und ging: Ortswechsel,das Seineufer.
Il de la Cite
Des Nachts, wenn andere Stadtteile für mich langweilig wurden oder eine Fete nicht in Sicht war, zog es mich zum Seineufer, richtiger auf die Il dela Cite, unterhalb der Notre Dame, dort wo die Jugend auf der Welt sich 1962 traf – alle die wenig Geld besaßen, reisefreudig, aufgeschlossen, aber dem teuren Leben Paris ade sagen mussten – Schüler, Studenten, Tramper, denn hier konnte man des Nachts diskutieren, singen, trinken, scherzen, ohne dafür bezahlen zu müssen: hier war man unter gleichgesinnten, gleich altrigen, hier wurde nicht nach der Herkunft gefragt, nicht was die Eltern machen, hier tauschte man Erfahrungen aus, tat sich zu Tramper-Fahrgemeinschaften zusammen, legte Geld für Essen und Trinken zusammen; es war eine kleine verschworene Gemeinde, die sich hier unterhalb der Notre Dame rein zufällig traf, sich wieder auflöste und sich Tage später in anderer Zusammensetzung wieder bildete.
Hatte man genug vom Schülertreffen und war noch nicht müde oder hatte man jemanden gefunden, mit dem man noch zu zweit zusammen sein wollte, zog man sich auf die Liebesinsel zurück, dort wo auf der gegenüberliegenden Seite der Louvre sich befindet oder wo die Touristendampfer ihren An-und Ableger haben, jene Ungeheuer, die „warte bis es dunkel wird“, uns mit ihren Scheinwerfern anstrahlten, damit die Touristen mal einen Blick aus sicherer Entfernung des Nachts das Treiben an den Seineufern erleben konnten. Da war die Liebesinsel schon ganz anders, Hier herrschte Dunkelheit, nur der Anleger war beleuchtet, neben sich schemenhafte Gestalten, über sich den sternenklaren Himmel und die Hände waren irgendwo dazwischen: Napoleon-Spiele.
Die Insel bot sonst nicht viel: sicher war der Justizpalast mit der Ste. Chapelle eine eine beeindruckende, mittelalterliche Erscheinung, auch die Notre Dame und das Hotel de Dieu konnten mich begeistern, jedoch wirkte sie zu anderen Stadtteilen ob am Tage oder des Nachts trostlos und nur die Seineufer wirkten voller Leben, waren griffig und menschlich.
Müdigkeit kommt selten in Paris, es ist die Schlappheit, die jedoch nicht den nötigen Schlaf bringt. Somit machtenb wir die Paris die Nacht zum Tage und der Tag – gerade wenn extreme Hitze herrscht – zur Nacht: die Clubs laden ein – teure und preiswerte, elegante und einfache, interessante und langweilige. Wer die Wahl hat, hat die Qual und empirische Forschung ist angebracht. Die Clubs haen viele Gemeinsamkeiten: man zahlt Eintritt, eine Liveband spielt, sie liegen versteckt. Die mir am interessantesten erscheinen, waren Kellerlokale. Der SLOW-CLUB an der Rue de Rivloi gelegen und der CLUB UNIVERSITAIRE in der Rue de Huchette. In beiden konnte man bei zivilen Preisen sich austoben, Charlston und Twist waren gerade modern. Heiße Musik und Gehoppse machen durstig und hungrig und wo soll man seine Bedürfnisse befriedigen: Die Hallen, der Bauch von Paris, gerade der richtige Ort, seinen Hunger zu stillen, denn eingefasst und in die Nebenstraßen sich ergießend, findet man eine Anzahl von Lokalen, die wohlschmeckende Gerichte um diese Zeit anbieten, nicht unbedingt für Nachtschwärmer, mehr für die Arbeiter der Markthallen, für die Nutten, für die Zuhälter, jedoch auch für unsereins, denn wir sind jung, verdorben aussehend und mit ein bisschen Geld in den Taschen, Hier ist man Mensch, hier darf man es sein.
Bei Sonnenschein geht es ab nach Hause, verschläft den größten Teil des Tages, Zeitablauf verschiebt sich, die ersten Vorlesungen werden versäumt, die ersten Verabredungen werden nicht eingehalten, man wird liederlich, gesichtlich wird man brauner, aber schmaler, die Briefe nach Hause werden kürzer, bald nur noch Gruß bis man ganz damit aufhört. Man hat nichts mehr mitzuteilen – Persönlichkeitsbildung ist angesagt.
Es ist schon seltsam mit den Menschen, vor noch nicht all zu langer Zeit stand ich noch wie ein Häufchen Unglück am Pariser Bahnhof und wäre am liebsten mit den nächsten Zug nach Bremen zurückgefahren, nun hätten mich keine zehn Pferde aus Paris hinausschleppen können. Aus einem Jonny Hollyday-Verschnitt entwickelte sich langsam aber stetig eine Person zum Existenzialismus. Camus, Satre, Piaf und Greco waren auch mir schon bekannt, auch der Begriff Existenzialismus, jedoch verband ich damit immer einen Literaturbegriff – niemals eine Lebensweise. Hier an der Stätte der Geburt kam man schnell in Kontakt mit dieser Lebensweise: die Namen Satre, Greco und Piaf waren in aller Munde und die Farbe „schwarz“ stach in Paris ins Auge. So blieb es nicht aus, dass ich – durch Gespräche, durch Vergleiche, durch das Sehen – meine graumäusig bis bunt reichende Garderobe abstreifte und mir schwarze Kleidung zulegte: Pullover mussten von Peter Scott sein und mehrere Nummern größer als man sont trug. Die Werke von Camus und Satre hatte man später gelesen, zuerst kam der Lebensstil, mehr geprägt durch die Piaf und durch Greco.
Abklatsch? Vielleicht. Ich war im 20sten Lebensjahr und Schüler, lebte bei und mit den Eltern, hier konnte ich, durfte ich mich frei entfalten und diese Möglichkeit nahm ich wahr – ob überzeugt, ich weiss es nicht: aber das Leben gefiel mir und ich lebte es aus. Protest, Protesthaltung, Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung, streiten für eine Sache, begeistern für eine Idee: im Laufe meines Lebens habe ich dieses Gefühl mehrmals empfunden, aber nie in einer so interessanten Stadt.
Selbstbetrug ist die einfachste Art im Leben weiter zu kommen.