Vor Gericht

Die Rechtmäßigkeit seiner gegenwärtigen Bestrafung durch „Geistentzug“ wird von dem Angeklagten angezweifelt. Trotz des Urteils durch ausgezeichnete Experten wünscht der Angeklagte das erneute, freiwillige und öffentliche Gerichtsverfahren gegen den Willen des Gerichtes. Es werden zwei Gutachter ihre Expertisen verkünden. Zum Einstieg ein Beweisstück: „Weil ich bin vom niederen Rang…so nicht fähig des höheren Denkens…aber vor allem weil ich gegen das Gefüge, das göttliche…wegen dieser Fehde…lassen die Götter mich nie zur Sonne emporsteigen.“ Kommt diese wirre Selbstbespiegelung wieder von Ihnen, diese pamphletische Stichelei? „Ja.“, antwortet der Angeklagte. „Du hattest immer selber Schuld!“, ruft eine ältere Dame aus dem Publikum. Ruhe! Der erste Gutachter bitte! Dieser Gutachter ist ein Experte für differentielle Psychologie und wird nun ein Psychogramm des Beklagten vortragen. Der Psychologe beginnt seine Ausführungen…Der Angeklagte vereint natürlich, aber in einer ungewöhnlichen Konstellation, die Wesenseigenschaften seiner Eltern. Ich betone hier Desinteresse an gesellschaftlichen Status und eine gewisse, vielleicht skandinavische Einfachheit.Die Erziehung muss als antiautoritär, liberal bezeichnet werden. Die Pupertät war ausschweifend, der Angeklagte -wenn ich es bildlich ausdrücke- hatte oft eine Bierdose in der Hand und eine Zigarette im Hals. Er bevorzugte textlastige Populärmusik, der un-konstruktive Texte zugrunde lagen. Die Beziehungsart zur Weiblichkeit ist -milde ausgedrückt- prekär. Er ist sich bewußt, dass wir seine künstlerischen Eskapaden auf unerfüllte Sehnsüchte und in der Folge der Triebbewältigung zurückführen. Er benutzt in untypischer Weise, mit rücksichtsloser Offenheit und sagenhafter Unbekümmertheit selbst den Ausdruck des Liebeswahns. Der Angeklagte ist definitiv nicht ohne Interesse an Frauen in seinem Umfeld. Er sei nicht auf eine Frau festgelegt, spricht selbst aber von seelischen Narben. Die Gutachter sind in der Bewertung der Ausmaße des Problems uneins. Die Ursachen dieser Problematik sind aus Gründen des Schutzes verschiedener Personen an dieser Stelle verdeckt zu halten. Die seelischen Wunden haben im üblichen Sinne etwas Krankes, im unüblichen etwas Ästhetisches, in Manches Sprachgebrauch etwas Übersinnliches. In diesem Zusammenhang nenne ich Paul McCartneys Lied: „The long and winding road.“ Die Unruhe des Publikums ist unübersehbar. Warum heben Sie die Hand? Unterbrechungen sind nicht vorgesehen! „Bei mir piept es leider!“, erklärt der Angeklagte. Die Prozessbesucher lachen schallend. Nun stellt der zweite Experte sein psycho-soziologisches Gutachten vor. Der Gutachter beginnt… Für die Beschreibung der Position des Angeklagten in unserer Gesellschaft sind Merkmale für Randständigkeit hilfreich, dazu sind hier einige Kriterien für Randständigkeit angeführt, von denen der Angeklagte keines ausläßt: Eigensinn, Unangepaßtheit, Aussehen respektive Kleidung, die Sprache und abweichende Überzeugungen. Nur über einige mir aufgefallene und bedeutsam erscheinende Punkte dieser abweichenden Überzeugungen sprechen wir im Folgenden. Der Beschuldigte unterscheidet unorthodox zwischen Menschen mit Intelligenz und solchen mit kleinbürgerlicher Schlauheit, was bereits zu einer  Entfremdung seiner Person führt. Erhellend für zu seiner Weltanschauung ist seine Vermutung über den Antrieb der Menschen. Hierbei sind seine Gedanken mit denen Erich Fromms verwoben und somit nicht theoretisch unfundiert. Der Beklagte spricht von einer Massenpsychose, vom Staat gewünscht und gesteuert, demnach die Staatslenker eine nahezu grenzenlose Beeinflussbarkeit und ebenso riesige Arroganz der Menschen zu Ihrer Steuerung nutzen. Dies bezeichnet er mit dem einem Wort, mit Statusdenken. Er zeigt hier keine gründlichen Ambitionen, weshalb seine Ausführungen meist argumentativ undifferenziert bleiben. Als ein Spiel mag er es jedenfalls nicht auffassen, dafür sei die Unterdrückung zu wirksam. Ein weiterer Aspekte betrifft das Rollenverhalten, darin die Ausgrenzungen, welche, nach Meinung des Angeklagten, nicht zwangsläufig durch ein üppigeres Warenangebot aufzuwiegen seien. Schlussendlich kann man somit behaupten: nicht nur wir klagen ihn an, sondern er auch uns. Die Unruhe des Publikums gerät zum Tumult. Was wollen Sie? Versuchen Sie die Gemeinschaft zu erpressen? Stellen Sie Ihre kleinen Privat-Interessen vor das Wohl des Staates? Robin Hood, warum nicht gleich Sokrates? Wollen Sie rehabilitiert werden? Es hat alles zwei Seiten! In Anbetracht des Verlaufs und kraft meines Amtes beende ich das Verfahren.

(1.2020)