Friedrich Stieve, Deutschland und Europa, Berlin 1926
Die Vorgeschichte des Weltkrieges ist zugleich Geschichte von Deutschlands allmählichen Herabgleiten aus der Höhe der politischen Machtstellung zu Bismarcks Zeiten. Langsam entschwindet ein Stück nach dem andern von dem Festungsgürtel der Bündnisse, aus dem der erste Reichskanzler sein Land umgeben hatte….So verlor das deutsche Volk das ganze stolze Erbe, das ihm der Gründer des neuen Reiches hinterlassen hatte. (S.151)
Bedenkt man die Ereignisse der letzten hier geschilderten Jahre, so kommt man zu dem Ergebnis, dass Europa allmählich in eine unheilbare Verfassung hineingeraten war. Die oftmals erwähnte Spaltung in zwei Lager hatte bereits zu einem Zustand der gegenseitigen Bekämpfung geführt, der besonders seit dem Beginn der Balkankriege fast ununterbrochen in Explosionen auszuarten drohte. Dabeiist es aber unbedingt klar, dass der Wille zum Angriff auf seiten der Entente in erster Linie bei Russland lebendig war.
Die ganze Atmosphäre war erfüllt mit Misstrauen, überspannten Nationalbewußtsein und gegenseitiger Verdächtigung. Der Krieg war schon irgendwie in den erregten Geistern lebendig. Man gab zwar vor, für die Wahrung des Friedens zu rüsten, aber in Wirklichkeit stand dahinter doch das leidenschaftliche Bestreben, für den Fall des bewaffneten Zusammenstosses, die größere Schlagkraft zu besitzen…
Allmählich glich der ganze Erdteil von der Nordgrenze Englands bis zu Mittelmeer, von Sibirien biszum Atlantischen Ozean einem Waffenlager. Europa roch nach Pulver. Ein einziger Funke konnte das riesige Magazin zur Entladung bringen. Und der Sommer des Jahres 1914 brachte den Funken und im Anschluss daran die Entladung in einer bis dahin in der Geschichte der Menschheit ungeahnten Schrecklichkeit. (S.133)